Forschung zu ZwangserkrankungenWie unser Gehirn auf Fehler reagiert – und warum uns das krank machen kannSerie Forschen und Verstehen
28. April 2025, von Anna Priebe

Foto: UHH/Göttling
Fehler sind menschlich – doch das Gehirn einiger Menschen reagiert auf sie besonders stark. Welche Rolle das im Zusammenhang mit Zwangserkrankungen spielt, untersucht Prof. Dr. Anja Riesel, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Klinische Neurowissenschaft an der Universität Hamburg.
Sie beschäftigen sich vor allem mit Zwangsstörungen. Was versteht man darunter genau?
Zwangsstörungen sind eine Erkrankung, unter der zwei bis drei Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens leiden. Sie sind gekennzeichnet durch aufdringliche Gedanken. Was viele vielleicht kennen ist so etwas wie: Habe ich den Herd ausgemacht? Sind meine Hände wirklich sauber? Oder vor einer Reise: Habe ich die Reisepässe eingesteckt?
Diese Gedanken werden als aufdringlich empfunden, führen zu einer Unruhe und Anspannung und haben Handlungen zufolge, die das unangenehme Gefühl bzw. die wahrgenommene Gefahr abwenden sollen. Der Reisende schaut also zwei- oder dreimal, ob die Pässe da sind – obwohl er eigentlich weiß, dass sie eingesteckt sind. Bei Betroffenen einer Zwangsstörung bleibt es aber nicht bei zwei- oder dreimal, sondern sie kontrollieren teilweise stundenlang oder vermeiden ganz viele Dinge aus Angst, dass sie etwas nicht kontrollieren können. Zum Beispiel lehnen sie Beförderungen ab, weil sie dann in der Firma nach Feierabend die Türen abschließen müssten, was mit einem Kontrollzwang sehr belastend sein kann. Es kommt also durch die Symptome zu Beeinträchtigungen der Lebensweise.

Sie interessiert vor allem dafür, welchen Einfluss die Fehlersensitivität auf Zwangserkrankungen hat. Was bedeutet das?
Fehler macht der Mensch ja ständig und überall, aber er reagiert unterschiedlich auf diese Fehler. Manche Menschen sind sehr entspannt und andere reagieren schon auf kleinere Fehler sehr stark. Seit den späten 1980er-Jahren gibt es die Idee, dass Zwangsstörungen mit einem überaktiven Fehlersystem im Gehirn zu tun haben, dass also Patientinnen und Patienten immer das Gefühl haben, etwas falsch gemacht zu haben und dieses Gefühl Zweifel, wiederholende Verhaltensweisen und Kontrollen stärkt. Dieser Annahme folgen wir mit unserer Forschung.
Wie finden Sie denn heraus, wie stark bei einer Person die Wahrnehmung von Fehlern ausgeprägt ist?
Untersuchen kann man Fehlersensitivität mit Fragebögen. Da müssen die Probandinnen und Probanden an Beispielen einschätzen, wie schlimm es ist, einen Fehler zu machen und wie sie darauf reagieren würden. Uns interessiert aber viel mehr, wie die Personen neuronal auf Fehler reagieren, was sich also im Gehirn abspielt. Wir schauen uns an, wie die Reaktion sich bei Gesunden und von Zwangsstörungen Betroffenen unterscheidet und auch, ob sie sich verändern lässt
Wir lassen Probandinnen und Probanden dafür am Computer einfache Aufgaben lösen, zum Beispiel sollen sie angeben, ob der mittlere von fünf Pfeilen nach rechts oder links zeigt. Das ist sehr einfach, aber weil die anderen Pfeile in verschiedene Richtungen zeigen, macht man doch schnell einen Fehler. Wir führen parallel eine Elektroenzephalographie, kurz EEG, durch und schauen uns an, wie das Hirn auf diese Fehler reagiert.
Die entscheidenden Signale werden im anterioren cingulären Kortex generiert. Diese Region in der Großhirnrinde reagiert nicht nur auf Fehler, sondern auch auf Schmerz und negative Gefühle – also immer, wenn etwas nicht optimal läuft. Nach einem Fehler können wir Ladungsänderungen an der Kopfoberfläche messen, die sogenannte „error-related negativity“ oder auch Theta-Oszillationen. Sie senden die Botschaft an andere Hirnregionen: Achtung, wir brauchen Ressourcen, um Schaden abzuwenden.
Und da sehen Sie signifikante Unterschiede?
Diese Reaktion kann man nicht bewusst beeinflussen, sondern sie passiert automatisch. Und wir sehen, dass das Alarmsignal bei Menschen mit Zwangserkrankungen lauter gestellt ist, das heißt, sie reagieren neuronal verstärkt auf Fehler.
Wir vergleichen bei unseren Versuchen immer Gruppen, das heißt, im Schnitt ist die Fehlersensitivität in einer Gruppe von Zwangserkrankten erhöht im Vergleich zu einer Gruppe gesunder Probandinnen und Probanden. Gleichzeitig gibt es auch Gruppen mit anderen Krankheitsbildern, wo die Fehlersensitivität eher gering ist, etwa bei Suchterkrankungen. Die Personen in den einzelnen Gruppen können sich aber in der Sensitivität durchaus unterscheiden.
Eine erhöhte Fehlersensitivität macht empfänglicher für Zwangsstörungen
Interpretieren Sie die starke Reaktion auf Fehler als ein Symptom oder als Ursache der Erkrankung?
Ich glaube, es ist eher kein Symptom, denn wir haben Daten über den Therapieverlauf – also Messungen vor und nach der Therapie. Die zeigen, dass die hohe Fehlersensitivität auch dann besteht, wenn die Zwangssymptomatik zurückgeht. Zudem haben wir Untersuchungen mit Angehörigen ersten Grades von Betroffenen durchgeführt, also Eltern, Geschwister oder Kindern. Diese Personen haben ein erhöhtes Risiko für eine Zwangserkrankung und zeigten ebenfalls eine höhere neuronale Fehlerreaktion, aber keinerlei Symptome.
Wir kommen daher zu dem Schluss, dass die erhöhte Fehlersensitivität dazu beiträgt, dass man empfänglicher für Zwangsstörungen ist – im Zusammenspiel mit der genetischen Veranlagung, der Erziehung und verschiedenen Umweltfaktoren wie Stress oder besonderen Lebenssituationen. Sie begünstigt also, dass man eine Zwangserkrankung entwickelt.
Kann man die Sensitivität denn beeinflussen?
Sie ist zu circa 50 Prozent genetisch veranlagt, hängt aber auch von unserer Erziehung und Erfahrungen ab. Studien haben gezeigt, dass Kinder von strafenden Eltern eher eine höhere Amplitude haben. Es ist quasi eine individuelle Eigenschaft, die stabil, aber trotzdem durch Übungen und Erfahrungen veränderbar ist.
Was bedeutet das für die Praxis?
Wenn sie ein Risikofaktor ist, wäre natürlich die Idee eines Einsatzes als Präventionsmaßnahme super spannend. Wir könnten vermitteln, wie wichtig es ist, dass Menschen einen liebevolleren Umgang mit Fehlern erlernen. Erste Studien zeigen, dass eine veränderte Haltung zu eigenen Fehlern auch die Fehlersensitivität beeinflussen kann. Das heißt, sie sinkt und damit vielleicht auch die Anfälligkeit für Zwangssymptome.
Zusätzlich zur Prävention könnte dies auch ein Ansatz sein, um Rückfälle zu verhindern. In der Verhaltenstherapie ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung das Mittel der Wahl, also sich den gefürchteten Situationen, Gedanken und Gefühlen zu stellen, sie auszuhalten und so den Zwangskreislauf zu durchbrechen. Das ist extrem wirksam. Wir wollen untersuchen, ob gezielte begleitende Interventionen helfen könnten, die Fehlersensitivität parallel zu senken und so den Therapieverlauf zu unterstützen. Ich würde das nie einer Exposition vorziehen, aber es kann eine zusätzliche Option sein. Das erproben wir auch gerade bei uns in der Ambulanz.
Wie arbeiten Sie in der Forschungsambulanz?
Wir sind spezialisiert auf Angst- und Zwangsstörungen. Allerdings sind wir keine reine Versorgungseinrichtung, sondern uns gibt es nur, um Forschung und Lehre zu unterstützen. Das heißt, wir behandeln nur Patientinnen und Patienten, die entweder an einer Studie teilnehmen oder sich bereit erklären, in der Lehre als Beispiel mit in ein Seminar zu gehen und dort von ihren Erfahrungen zu berichten.
Wenn sie an der Forschung teilnehmen, bedeutet das für die Patientinnen und Patienten, dass sie eine umfangreiche diagnostische Voruntersuchung erhalten, bei der unter anderem ein EEG gemacht wird. Sie erhalten aber eine ganz normale Verhaltenstherapie, die auch mit der Krankenkasse abgerechnet wird. Allerdings nehmen sie am Ende nochmal an der Studie teil und wir schauen, was sich durch die Therapie verändert hat. Die Teilnehmenden unterstützen uns also in der Forschung und tragen dazu bei, dass wir unser Verständnis von der Zwangsstörung weiterentwickeln.
Die Forschungsambulanzen
An der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Universität Hamburg gibt es zwei verschiedene Forschungsambulanzen. Eine ist spezialisiert auf Psychosen, Prof. Dr. Anja Riesel leitet die Forschungsambulanz für Angst- und Zwangsstörungen. Das Angebot für Betroffene umfasst ambulante Einzeltherapie und Gruppentherapien mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Zudem werden regelmäßig Angehörigensprechstunden sowie Informationsveranstaltungen für Betroffene und Angehörige angeboten.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion gesendet werden.