Der 29. Juli 2023 ist ein heißer Sommertag, die Identitäre Bewegung hat zu einer Demonstration in das historische Zentrum von Wien geladen. Ihr Vordenker Martin Sellner wird sich später über "500 Patrioten" freuen, die gekommen sind. Es sind überwiegend junge Menschen in kurzen Hosen und T-Shirts zu sehen.

Auf zwei Transparenten in den gelb-schwarzen Farben der völkischen Jugendgruppe steht das Motto des Aufmarsches: "Letzte Generation. Für Remigration". Auch Sellner selbst lässt keine Zweifel, worum es gehen soll: "Remigration wird der Schlüsselbegriff für das 21. Jahrhundert in Europa sein, oder Europa wird nicht mehr sein."

Der Neuen Rechten geht es darum, den Begriff in den öffentlichen Raum zu tragen. Es geht um Aufmerksamkeit für die Verschwörungserzählung von einem sogenannten Bevölkerungsaustausch. Danach ersetzen globalistische Mächte die eigene Bevölkerung durch Einwanderer. Doch für die breite Masse bleibt Remigration auch nach der Kundgebung ein Fremdwort.

Das ändert sich schlagartig, als im Januar die Correctiv-Recherche veröffentlicht wird, laut der Sellner sich im Landhaus Adlon bei Potsdam mit anderen Vertretern der Neuen Rechten und der AfD traf. Sellner und sein Plan rücken ins Scheinwerferlicht. Über Nacht wird der Österreicher bekannt und mit ihm der Begriff Remigration. Mittlerweile hat die Stadt Potsdam ein Einreiseverbot für ganz Deutschland gegen ihn verhängt.

Feldzug gegen das Auschwitz-Gedenken

Was in der aktuellen Debatte oft übersehen wird: Die Neue Rechte und die AfD verknüpfen ihre rassistischen Vertreibungsfantasien mit der deutschen Erinnerungskultur. Es geht darum, die angebliche politische Instrumentalisierung von Auschwitz zu überwinden.

Um das nachzuvollziehen, lohnt der Blick in Sellners Veröffentlichung Regime Change von rechts. Darin ruft der Österreicher in bekannten martialischen Tönen die "Rettung der ethnokulturellen Identität" zum Hauptziel des rechten Lagers aus. Die entscheidende Voraussetzung dafür ist für Sellner ein "positiver Bezug zur nationalen Identität", anstelle einer auf "Traumatisierung und nationalen Selbsthass ausgerichteten Geschichtserziehung".

Die Idee ist nicht neu. Sellners wichtigste Bezugsquelle ist der 2016 verstorbene Historiker Rolf Peter Sieferle, der in Auschwitz einen "Mythos" erkennt. Besonders bekannt ist dessen posthum erschienenes Buch Finis Germania.

Für Sieferle besitzt das deutsche "Ritual der Vergangenheitsbewältigung" dabei "Züge (…) einer Staatsreligion", in deren Zentrum die "schwerste und singuläre Schuld auf Erden" stehen würde: "Diese Ursünde erbt sich nun von Geschlecht zu Geschlecht fort, sie wird zur Erbsünde, die nicht vergessen oder verdrängt werden kann und darf. Damit ist das Volk der Nazis zum negativ auserwählten Volk geworden."

Die Erzählung vom Schuldkult

In der moralischen Bewältigung der NS-Verbrechen erkennt Sieferle das Fundament einer negativen deutschen Identität. Die eigene Abschaffung wird damit zur Heilslehre: "Wenn es keine 'Völker' mehr gibt, sondern nur noch 'Menschen', dann gibt es auch keine Deutschen mehr, die Erlösung vom schmutzigen Deutschtum hat also erfolgreich stattgefunden", schreibt er in seinem früheren Buch Das Migrationsproblem.

Nach einer solchen Vorstellung liegen die Motive für den angeblichen Bevölkerungsaustausch auf dem Tisch. Die Neue Rechte erkennt darin eine antifaschistische Mission, Sellner spricht von der "'Wiedergutmachung' einer historischen Schuld" und meint gar in Deutschland die "Elite" eines "Schuldkultblocks" am Werk, wie er in seiner jüngsten Publikation Remigration. Ein Vorschlag deutlich macht.

Die Neue Rechte leitet daraus negative Folgen für Deutschland ab. Das wird etwa bei dem Österreicher Martin Lichtmesz deutlich. Lichtmesz ist davon überzeugt, die Warnung vor dem "Nie wieder" müsse ständig in öffentlichen Ritualen und Zeremonien am Leben gehalten werden. Exemplarisch dafür sieht er den Umgang mit dem Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds. Lichtmesz behauptet in seinem Buch Die Hierarchie der Opfer, die rechtsterroristische Mordserie sei "zu einer Art 'Mikroholocaust' stilisiert" worden, "an dem keine Zweifel erlaubt waren, mit 'frischen' Opfern und 'frischen' Nazis".  

Lichtmesz' Aussagen sind prototypisch für den Deutungskampf der Neuen Rechten, der einem wiederkehrenden argumentativen Muster folgt. Zunächst wird grundsätzlich jedes strukturelle Rechtsextremismusproblem systematisch verneint. Lichtmesz spricht gar von einem "Märchen von der braunen Terrorzelle". Das Problem sind dann nicht mehr die Taten selbst, sondern ihre ungerechtfertigte Erhöhung.

Aufarbeitung als Schwäche

Daraus leitet die Neue Rechte ihre Verteidigung gegen Kritiker ihrer Ideen ab: Wer der Holocaust-Religion angehöre, der bewaffne sich eben mit der Nazikeule. Martin Sellner erklärt, generell jedes rechte Gedankengut werde damit von den Grenzen des Sagbaren ferngehalten. Was rechts ist, "liegt in der 'Vergangenheit', ist 'gestrig', führt zurück bis 'nach Auschwitz'".

Ein Beispiel ist für Sellner das Treffen von Potsdam, an dem er selbst teilgenommen hat. Nicht die eigenen Pläne zur Remigration, sondern die "Kampagne gegen rechts" ist aus seiner Sicht die "Verschwörungserzählung", wie er in der neurechten Sezession schreibt.

Der Neuen Rechten geht es darum, das Meinungsfenster nach rechts zu verschieben. Die eigene Ideologie soll so gesellschaftlich legitimiert werden. Der Nazivorwurf ist für sie ohnehin nur ein Ablenkungsmanöver, um die eigentliche Gefahr durch migrantische Gewalt unter den Teppich zu kehren.

Zurück in Wien. Der Protestmarsch der Identitären Bewegung durch die Innenstadt im Juli 2023 musste am Ende wegen einer Blockade umgeleitet werden. Das größere Hindernis auf dem Kurs in Richtung Remigration sind für Martin Sellner aber vor allem die "'Mahnmale' der eigenen Schuld, in denen sich der Ethnomasochismus als Zivilreligion offenbart".

Für Sellner ist das Gedenken an sechs Millionen ermordete Juden nicht mehr als der Sargnagel des Traums von einem homogenen Deutschland. Die Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte wird damit zu einer großen Erzählung der kollektiven Schwäche umgedeutet. Von einer Verantwortung für das Erinnern und Gedenken bleibt nichts mehr übrig.

Niklas Fischer arbeitet am Lehrstuhl Didaktik der Geschichte und Public History an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das Holocaustgedenken und die Deutungskämpfe der Neuen Rechten.