Ein junger Mann stolziert mit der Flagge eines längst untergegangenen Fürstentums durch Gera, eine 90.000-Einwohner-Stadt in Thüringen. Hunderte tun es ihm gleich, auch die schwarz-weiß-roten Flaggen des deutschen Kaiserreichs wehen in der Frühlingsluft. "Endlich wieder unter Menschen, die Bescheid wissen", freut sich der junge Mann, der extra aus Mecklenburg-Vorpommern angereist ist. Die Veranstaltung vom vergangenen Samstag, die ihn so begeistert, trägt den Titel Das Große Treffen der 25+1 Bundesstaaten, die größte Demonstration der Reichsbürger-Szene seit Jahren.

25 Bundesstaaten hatte das deutsche Kaiserreich, außerdem beanspruchen Reichsbürger die Region Elsaß-Lothringen, das heute zu Frankreich gehört, für Deutschland. Die Fantasien vom Ende der Bundesrepublik und der Rückkehr zum Kaiserreich verfangen in der Szene. Lange Zeit war sie zersplittert, teilweise zerstritten. Doch ein Netzwerk langjähriger Aktivisten hat es geschafft, Einheit zu stiften – und auch über das eigene Milieu hinaus Menschen mit ihren kruden Ideen zu erreichen.

Rund 1.000 Menschen sind am Samstag nach Gera gekommen. "Seit Corona hat es keine bundesweiten Reichsbürger-Kundgebungen dieser Größenordnung gegeben", sagt Politikwissenschaftler Jan Rathje. Er beobachtet die Szene für den Thinktank Cemas. Das Netzwerk, welches das Bundesstaaten-Treffen ausgerichtet hat, bereitet ihm besondere Sorgen – denn mit seiner Netzwerkarbeit hat es offenbar Erfolg: Beim ersten Bundesstaaten-Treffen im Herbst 2023 in Magdeburg sind es noch 800 Teilnehmer gewesen. Die Telegram-Gruppe des Netzwerks zählt fast 3.000 Mitglieder.

Terrorverdächtiger genießt Kultstatus

Hinter dem Treffen stecken langjährige Aktivisten der Szene – zum Beispiel Hans-Joachim Müller, der schon zu Zeiten von Pegida für das Kaiserreich agitierte und beim Leipziger Ableger Legida als Redner auftrat. Auch Teil des Organisationsteams: der Berliner Frank Radon, der an jener Demonstration im August 2020 teilgenommen hatte, von der aus der Sturm auf den Reichstag losbrach. Die Gruppe verbreitet ihre Ideologie in sozialen Netzwerken und auf Kongressen, die teils von Hunderten Menschen besucht werden.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) geht von deutschlandweit rund 23.000 Reichsbürgern und sogenannten Selbstverwaltern aus. Seit der Corona-Pandemie ist die Szene demnach im Aufwind. Auch Straftaten durch Mitglieder der Szene nehmen zu: Knapp 1.900 politisch motivierte Delikte aus dem Milieu zählt das BfV für 2022, darunter Erpressung, Nötigung und zwei versuchte Tötungsdelikte. 2021 waren es laut BfV nur gut 1.300 Straftaten – ein Wachstum um fast 40 Prozent. In Thüringen meldete das Landesministerium für Justiz Ende 2023, die Zahl der Bedrohungen von Justizmitarbeitern durch Reichsbürger habe sich innerhalb eines Jahres verdoppelt.

Dass die Szene ihre Pläne auch in größerem Umfang umzusetzen gedenkt, zeigen die Vorhaben der mutmaßlichen Terrorgruppe um den Immobilienunternehmer und Adelsspross Heinrich XIII. Reuß, deren Mitglieder im Dezember 2022 festgenommen worden waren. Der terrorverdächtige Adlige, selbst ein glühender Anhänger der Reichsideologie, genießt unter seinesgleichen Kultstatus: Ein Redner in Gera feierte das "Fürstentum Reuß" als das "wohl bekannteste Fürstentum auf deutschem Boden", die inhaftierten mutmaßlichen Putschisten bezeichnete er als "politische Gefangene". Die Fürstentümer der Linie Reuß stellen auch zwei der angeblichen Bundesstaaten dar, Anhänger erschienen mit passenden Flaggen und T-Shirts.

Auch Neonazis sind begeistert

Zwischen dem Bundesstaaten-Netzwerk und der mutmaßlichen Terrorgruppe gibt es auch personelle Überschneidungen: Mitorganisator Matthes Haug ist Beschuldigter im Verfahren gegen die Gruppe. In deren Kanälen würden auch Grußkarten für die Inhaftierten verbreitet, sagt Politikwissenschaftler Rathje: "Reuß hat eine besondere Strahlkraft in diesem Milieu." Er stamme aus einer Adelslinie, die im historischen Kaiserreich tatsächlich Herrschaftslegitimität genossen habe. Und Adligen werde die Kompetenz zugeschrieben, das sogenannte Reich wieder handlungsfähig zu machen. Das Milieu, das sich in Gera getroffen hat, sei so etwas wie das "Sympathisantenumfeld" für die Reuß-Gruppe.

Auch für Neonazis sind die Reichsbürger anschlussfähig: So wurde auf der Thüringer Veranstaltung das Horst-Wessel-Lied angestimmt, die verbotene Parteihymne der NSDAP. Und Christian Klar, ein umtriebiger Rechtsextremist aus der Region, stand am Grillstand und wendete Wurst für die Kaisertreuen. Selbst Peter Fitzek ließ sich blicken, der selbst gekrönte Herrscher der Reichsbürger-Organisation Königreich Deutschland. Sein Fantasiestaat gehört nicht zu den 25+1 Bundesstaaten, als Konkurrenz sieht er die Flaggenträger jedoch nicht: "Was ich hier sehe, sind Menschen, mit denen man kooperieren kann", sagte er dem ZEIT-ONLINE-Reporter freudig lächelnd.

Auch für manche AfD-Mitglieder ist das Reich offenkundig von Interesse: Mitglieder der örtlichen AfD-Fraktion waren laut Augenzeugen vor Ort, darunter auch der Fraktionsvorsitzende Harald Frank. Frank gibt das regionale Anzeigenblatt Neues Gera heraus, dort wurde das Reichsbürger-Treffen als "historischer Flaggenumzug" beworben. ZEIT ONLINE hat Frank schriftlich gefragt, aus welcher Motivation heraus er und andere AfD-Mitglieder dort gewesen sind und ob man die Forderung der Reichsbürger teilt, zur Verfassung des Kaiserreichs zurückzukehren. Die Anfrage wurde nicht beantwortet.