"Muslim Interaktiv"

Kalifats-Propaganda vom Netz auf die Straße

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Polizei in Hamburg (Symbolbild)
Symbolbild

Am vergangenen Wochenende hielten 1.100 Gottesstaat-Anhänger ungestört eine einschüchternde Machtdemonstration auf dem Hamburger Steindamm ab. Angemeldet wurde die Versammlung von der Gruppe Muslim Interaktiv, die als Tarnorganisation der verbotenen islamistischen Sekte Hizb ut-Tahrir (HuT) agiert. Die Betätigungen der Kalifats-Kämpfer beschränkten sich bisher weitestgehend auf das Internet. Dort radikalisieren sie maßgeblich Identitätsfragen von jungen Muslimen. Das HuT-Netzwerk in Deutschland wächst und tritt mittlerweile selbstbewusster in der analogen Öffentlichkeit auf.

"Allahu Akbar" und "Stoppt die Wertediktatur" grölte es am Samstagnachmittag durch die Straßen des Hamburger Stadtteils Sankt Georg. Ein martialisch auftretender Mob von überwiegend schwarz gekleideten jungen Männern forderte unverhohlen die islamische Gottesherrschaft – das Kalifat. Mit einer streng geschlechtergetrennten Kundgebungsordnung – vorne lautstarke Männer, hinten vollverschleierte Frauen – gaben die Islamisten einen Vorgeschmack auf das ab, was in ihren Augen nicht nur Deutschland erwarten soll. Das Erscheinungsbild des Massenauflaufes hatte etwas Militärisches, gar Furchteinflößendes. Auf der Versammlung waren unter anderem Plakate mit der Aufschrift "Das Kalifat ist die Lösung" und Kapuzenpullover mit dem Aufdruck "Marionettenherrschaft, Zweistaatenlösung, Demokratie, UN: Kalifat" zu sehen. Über den Köpfen der Teilnehmer wehten Fahnen mit dem Aufdruck des islamischen Glaubensbekenntnisses, der Schahada. Diese Flaggen sind sonst nur vom Islamischen Staat oder Al Qaida bekannt. Auch HuT-Aufmärsche kennzeichnen sich damit.

"Islamfeindliche Berichterstattungen", die den Islamismus verdrängen?

Als Motto der Veranstaltung wurde ein Protest "gegen islamfeindliche Berichterstattungen" angekündigt. Anlassgebend für die Demonstration war der Medienrummel rund um den Tauhid-Finger und den "Allahu Akbar"-Ruf des deutschen Nationalspielers Antonio Rüdiger.

Am Osterwochenende 2024 konnte die Salafisten-Größe Marcel Krass bereits einen Vortrag vor 400 teilnehmenden Islamisten in Hamburg-Billbrook abhalten. Initiator dessen war laut NZZ die HuT. Man kann davon ausgehen, dass auch hier Muslim Interaktiv eine Rolle gespielt hat. Während die deutsche Presselandschaft zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Potsdamer Geheimplan beschäftigt war, fand dieses regelrechte Geheimtreffen der islamistischen Staatsgefährder keine Beachtung.

Schon im Frühjahr 2023 kam es in Hamburg zu einer ähnlichen, mit 2.900 Teilnehmern im Vergleich zur jüngsten Veranstaltung sogar größeren Ansammlung von Muslim Interaktiv. Damals richtete sich der islamistische Zorn gegen die Koranverbrennungen in Schweden. Etablierte Medien berichteten im letzten Jahr kein einziges Mal über die Kundgebung. Erst nachdem diesmal "alternative" Journalisten das Islamisten-Event dokumentierten, zogen jetzt öffentlich-rechtliche Redaktionen hinterher.

Muslim Interaktiv: Digitaler Radikalisierungsbeschleuniger

Einer der Wortführer der Demonstration war Joe Adade Boateng, führender Kopf der Gruppierung Muslim Interaktiv. Der charismatische junge Mann postet regelmäßig Clips seiner islambezogenen Erörterungen auf Instagram oder TikTok und nennt sich dort selbst Raheem. Der 25-Jährige studiert derzeit in Hamburg auf Lehramt. Er ist Sohn einer deutschen Mutter und eines Vaters aus Ghana. Auf YouTube erzählt Boateng, wie er in seiner Schulzeit eigenständig zum Islam gefunden habe. Nun fungiert er als Popstar unter den islamistischen Influencern.

Seine seit 2020 in Erscheinung tretende Plattform Muslim Interaktiv wird vom Verfassungsschutz Hamburg beobachtet und als gesichert extremistisch eingestuft. Die Gruppe findet überwiegend auf Social Media statt, seit etwa einem Jahr ist ihr Aktionsfeld auch die Straße. Auf Instagram erreicht sie rund 5.000 Follower, auf TikTok sind es mit 20.000 Followern weitaus mehr. Professionell geschnittene Videos mit eloquent ausgedrückten, eindringlichen Botschaften transportieren dort gängige islamistische Narrative. Immer wieder spielen die Protagonisten auf die "unterdrückte", "benachteiligte" und "zwangsassimilierte" Situation der Muslime in Deutschland an. Auch der rassistische Mordanschlag von Hanau wurde von Muslim Interaktiv für Propaganda-Zwecke missbraucht. Es geht ihnen darum, ein Bedrohungsszenario heraufzubeschwören und Muslime als Schicksalsgemeinschaft gegen die Moderne zu mobilisieren. Der Westen wird anhand von Debatten um LGBTQ als verdorben betrachtet. Kritik am Kopftuch etikettieren die Akteure von Muslim Interaktiv als Teil einer "rassistischen Meinungsdiktatur". Seit dem 7. Oktober ist der Gaza-Krieg Dauerthema bei Muslim Interaktiv. Zionisten werden als "menschenverachtend" bezeichnet und mit dem Verwenden des Begriffs "Genozid" erhofft man sich erneut Anschluss an das antirassistische Milieu.

Obendrein richtet sich die Mission der Hassprediger auch an die muslimische Community selbst. Permanent wird an die "richtige", "gottesfürchtige" Gestaltung der muslimischen Identität appelliert. Als Negativschablonen führen Muslim Interaktiv arabische Golfstaaten wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate vor, die Christen zu Weihnachten gratulieren oder diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten. Eine besondere Verachtung trifft inner- oder ex-muslimische Zweifler wie beispielsweise Hamed Abdel-Samad oder Ahmad Mansour. Bei einer Buchvorstellung von Hamed Abdel-Samad im Frühjahr 2023 erhoben sich unangekündigt zwanzig Aktivisten von Muslim Interaktiv und störten die Veranstaltung. Islamismuskritiker würden "den Islam schlechtreden" und "Muslime spalten".

Die Nachricht ist eindeutig: "Seid nicht so wie die. Lasst euch Muslime nicht vom Westen infiltrieren. Bewahrt Eure Religion und geht keinen Pakt mit dem Teufel ein." Ingroup versus Outgroup. In diesem dichotomen Schema gelten Muslime als Opfer und die westliche Welt als Täter. Die Social Media-Indoktrination kann ein Radikalisierungsbeschleuniger sein. Junge Muslime, die sich die Frage der Zugehörigkeit stellen, erfahren bei Muslim Interaktiv vorgeblich, auf welcher Seite sie sich positionieren müssen. Und noch mehr: Als Kämpfer für das Kalifat erlangen sie plötzlich den exklusiven Wert, bedeutsamer Teil von etwas Großem zu sein.

Das Logo der Gruppierung verbildlicht diese Ideologie: Abgebildet ist ein roter Bluttropfen in dessen Zentrum die Kaaba, das zentrale islamische Heiligtum in Mekka, steht. Zwei Lesarten drängen sich auf. Entweder geht es um die ausgebeutete, blutende muslimische Welt oder um die Bereitschaft, für den Islam Blut fließen zu lassen.

Stellvertreter der Hizb ut-Tahrir

Muslim Interaktiv ist eine Nachfolgeorganisation der 2003 mit einem Betätigungsverbot belegten Hizb ut-Tahrir-Bewegung. Zum Netzwerk der HuT-Zweigstellen gehören in Deutschland neben Muslim Interaktiv die noch reichweitenstärkeren Vereinigungen Generation Islam und Realität Islam. Generation Islam spricht auf Instagram 75.000 und Realität Islam 35.000 Follower an. Die Narrative und Agitationsstrategien der beiden HuT-Ableger ähneln denen von Muslim Interaktiv. Während die Gruppe analog mehr auf den Raum Hamburg beschränkt ist, tritt Generation Islam in Nordrhein-Westfalen und Realität Islam in Hessen auf. Auch Generation Islam steckt hinter einer mit Schahada-Fahnen begleiteten judenfeindlichen und terrorverherrlichenden 3.000-Teilnehmer-starken Demonstration, die im vergangenen Jahr in Essen stattfinden konnte.

Trotz Verbot ist die HuT-Anhängerzahl seit 2003 konstant gestiegen. 2003 zählte der Verfassungsschutz 200 Parteigänger, 2018 waren es 350 und 2022 760 Anhänger. Die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt. Ein Grund für dieses Wachstum ist das Versteckspiel der Hizb ut-Tahrir in Stellvertreter-Gruppen, die sich oberflächlich an den freiheitlich-demokratischen Rechtsrahmen halten und formal keine Straftaten begehen, die zu neuen Organisationsverboten führen könnten.

HuT: transnationale islamistische Splittergruppe, der die Muslimbruderschaft noch zu moderat ist

Die HuT beschreibt eine seit den 50er Jahren bestehende, global agierende islamistische Sekte. Hizb ut-Tahrir ist arabisch und heißt "Partei der Befreiung". Ihr Gründer ist der palästinensische Rechtsgelehrte Taqi al-Din al-Nabhani (1909–1977). Sein erklärtes Lebensprojekt war die Errichtung eines Kalifats unter Nutzung aller technischen und ökonomischen Errungenschaften. In seinem Werk "Nizam al-Islam" ("Die Lebensordnung des Islam") definiert er, wie die islamische Orthodoxie im Einklang mit wissenschaftlichen Innovationen funktionieren kann, ohne dabei fundamentale Prinzipien zu verraten. Zugespitzt formuliert war dies vielleicht schon die Geburtsstunde der postmodernen Social Media meets Sharia-Taktik.

Die schwarzen oder weißen Schahada-Fahnen sind ein Erkennungsmerkmal von HuT-Manifestationen in Deutschland. Jene Flagge findet sich auch im offiziellen Logo der HuT wieder. Dies bildet eine schwarze Flagge mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis vor einer Weltkugel ab, auf der in roten arabischen Schriftzeichen "Hizb ut-Tahrir" prangt.

HuT kann als transnationale und panislamistische Bewegung verstanden werden. Zur Gründungszeit trat sie als radikalere Konkurrenz zur Muslimbruderschaft auf. Ursprünglich verfolgte die HuT ausschließlich die Eliminierung Israels. Später globalisierte Hizb ut-Tahrir den grundsätzlichen Kampf gegen die Moderne und den Kapitalismus auf Basis des Islam. Dafür sieht die HuT nicht von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab. Das islamische Gesetz der Scharia und die Gemeinschaft der Muslime nehmen in der politischen Systemvorstellung der HuT einen Absolutheitsanspruch ein. Im Kalifat, das von Hizb ut-Tahrir angestrebte Gesellschaftsmodell, werden alle Lebensbereiche von einem strengen Islam reglementiert. Eine Gewaltenteilung existiert nicht und statt der Souveränität des Volkes gilt die des Gottes. In der Theokratie nach HuT-Definition besitzen nationale Grenzen keine Gültigkeit und alle Menschen sind der Führung eines Kalifen untergeordnet. Diese Nationalstaatsfeindlichkeit ist auch der Grund, weshalb auf HuT-geprägten Demos gegen Israel kaum bis gar keine Palästina-Fahnen zu sehen sind.

Hamburg: tolerierte Werbung für das Kalifat

Mit dem Kalifat wird eine Herrschaftsordnung des 7. Jahrhunderts verfolgt. Auf Lossagung vom Islam, Homosexualität oder Gotteslästerung folgt die Todesstrafe. Beschaffungskriminalität wird mit der Amputation von Gliedmaßen geahndet. Ehebrecher müssen öffentliche Steinigung ertragen und außerehelicher Sex wird mit etlichen Peitschenhieben bestraft. Eine Antizipation dieser islamistischen Totalität wurde bereits am Samstag in Hamburg verkündet. "Wenn die Karten neu gemischt werden" und der "schlafende Riese erwacht", werden Politiker und Medien "zur Rechenschaft gezogen", skandierte ein Muslim Interaktiv-Funktionär vom Rednerpult.

Wenn nicht gleich als Aufruf, dann ist diese Aussprache jedoch mindestens als Verherrlichung oder Legitimation von Gewalt zu verstehen. Dieser Redebeitrag und weitere Umsturzfantasien veranlasste die Hamburger Polizei nicht zum Eingreifen. Auch zivilgesellschaftliche oder antifaschistische Kundgebungen setzten dem islamistischen Treiben auf dem Steindamm nichts entgegen. Zur Tragik der Geschichte gehört, dass drei Tage vor der Demonstration die Hamburger Bürgerschaft über einen von der CDU eingereichten Verbotsantrag für Muslim Interaktiv abstimmte. Die SPD und die Grünen lehnten mehrheitlich die Verbotsverfügung ab. Die Linke enthielt sich.

Islamisten agitieren ungestört; säkularer Widerstand bleibt gefährlich

Am Samstag, den 4. Mai soll als demokratische Antwort eine Kundgebung "gegen Islamismus und Antisemitismus" auf dem Hamburger Steindamm erfolgen. Zu den Veranstaltern gehören unter anderem die Frauen für Freiheit, die Kurdische Gemeinde Deutschland und die Woman, Life, Freedom-Bewegung Hamburg. Als Gradmessung darüber, wie es um den Kampf für die Offene Gesellschaft in diesem Land bestellt ist, wird am kommenden Samstag zu beobachten sein, dass diese freiheitliche Demonstration nicht ohne massiven Polizeischutz auskommen kann, wohingegen die Muslim Interaktiv-Versammlung ungestört ablaufen konnte.

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