„Playbook“-Newsletter

„Politico“ macht aus Berlin ein Miniaturwunderland – mit den kleinsten Scoops der Welt

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Screenshot: „Politico“

Guten Tag und herzlich willkommen zu diesem Artikel! Ich hoffe, Sie haben gut auf die Seite gefunden. Mein Name ist Stefan Niggemeier, und ich habe diesen Text für Sie geschrieben. Er fängt gleich an, dauert nicht mehr lang, keine große Vorrede mehr, Achtung, nur ein Gedankenstrich und ein Wort und ein Doppelpunkt noch – jetzt:

FRAGE-ZEICHEN: Wenn Sie dieser Einstieg rätseln und fremdeln ließ, dann sind Sie kein Abonnent des Newsletters „Berlin Playbook“ von „Politico“. Der beginnt jeden Morgen damit, dass der Executive Editor Gordon Repinski sich einem wie ein übereifriger Kellner vorstellt, ein paar offenkundige Dinge sagt, wie dass es schon wieder ein neuer Tag ist oder gar eine neue Woche, und eine augenzwinkernde Bemerkung hinzufügt über das Wetter oder die viele Arbeit oder den Ort, von wo er seine Depesche schickt.

Gute Vor-Sätze: Es ist nicht die einzige Marotte dieses Newsletters. Eine andere ist es, kurze Absätze zu schreiben, die alle mit fettgedruckten Anläufen beginnen.

American Beauty: Und wenn Sie sich jetzt fragen, ob das nicht ein bisschen anstrengend ist (und zu einer unschönen Häufung von Doppelpunkten und Witzigkeitsbemühungen führt), lautet die Antwort: Mag schon sein, aber erstens machen die das beim erfolgreichen amerikanischen Original auch so und zweitens ist das nicht das Anstrengendste an diesem Newsletter.

Keine Füllsätze, nur die Essenz

Seit fast drei Monaten gibt es „Berlin Playbook“. Es ist das erste deutsche Produkt des Medienunternehmens „Politico“, das 2021 für angeblich über eine Milliarde Dollar von Axel Springer gekauft wurde. Der Newsletter ist vorläufig kostenlos und soll die Entscheider und Entscheidungsvorbereiter schon mal einsammeln, damit man ihnen nach und nach andere, kostenpflichtige Produkte schmackhaft machen kann. Der Markt für solche Premium-Newsletter, die exklusive aktuelle Informationen versprechen, boomt gerade.

Das amerikanische „Playbook“, das 2007 gestartet wurde, gilt als extrem einflussreich in der Politik-Blase in Washington. Die „Gründungsstory“ jenes Original-Newsletters, wie Repinski sie im Interview mit „Medien Insider“ erzählt, begann mit einem „internen Briefing für den Chefredakteur“: „Denn der wollte einfach nur eine Übersicht darüber, was er wirklich wissen muss. Der braucht keine Füllsätze, sondern die Essenz des Geschehens.“ Im Playbook sei zu lesen, „was Politiker und ihre Berater aktuell bewegt. Es ist die Lebensrealität der Entscheider. Sehr viele Vorlagen, Personalwechsel und wenn die Tür zugeht, etwas Gossip mit dem Vorstandskollegen.“

Ich bin also in keiner Weise Zielgruppe dieses Newsletters und kann nicht beurteilen, in welchem Maße er deren Bedürfnisse befriedigt. Mit etwas Pech sorgt er sogar dafür, dass ich schlechter über diese Zielgruppe denke, wenn es das ist, was die lesen wollen. Und wie sie es lesen wollen.

Zum Beispiel:

AUFGEBREZELT: In einem ihrer berühmten Blazer, diesmal in grasgrün, wurde Angela Merkel gestern Morgen bei einem Besuch der Bäckerei „Wiener Brot“ in der Tucholskystraße gesichtet.

Oder:

RADLER: Die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann wurde gestern auf dem Fahrrad in der Luisenstraße gesichtet – dort war auch Stefan Braun unterwegs.

Nichts gegen Gossip, aber man muss die lange Tradition des Tratschen wirklich verteidigen gegen diese buchhalterische Art, Ereignislosigkeit festzuhalten. Was macht der exklusiv informierte „Playbook“-Leser mit diesem, nun ja: Klatsch? „Uschi, hast du gehört, wo die Merkel gestern war?“ – „Nein, wo?“ – „BEIM BÄCKER!“

Gut, das ist nur aus dem unteren, bunten Teil des Newsletters („bunt“ hier im Sinne von grasgrün aktengrau), aber auch die großen politischen Geschichten werden speziell erzählt – und es stellt sich heraus, dass sich durch das Weglassen von Füllsätzen allein noch keine „Essenz“ herstellen lässt, vor allem dann nicht, wenn man sie durch gastronomische Details ersetzt. Schon das erste „Berlin Playbook“ erzählte, noch bevor es um Ursula von der Leyens Plan zur Wiederwahl als Präsidentin der EU-Kommissions ging, was es bei ihrem Vorbereitungstreffen mit dem CDU-Präsidium zu Essen gab („Erbsensuppe mit Gambas und Rinderfilet auf Sterne-Niveau“). Aber das exklusiv.

Kleine Rednerfigur vor dem Reichtag
Nirgends wirkt der Politik-Betrieb so klein wie im „Berlin Playbook“ Foto: Imago / Steinach

Von hier aus können Sie den Reichstag anspucken

Repinski verspricht den „Fokus auf das Wesentliche, vermittelt in wenigen und prägnanten Sätzen“ und sagt: „Wir wollen das nährstoffreichste Frühstück für den deutschen Politikbetrieb sein.“ Dann schauen wir für einen Realitätscheck mal, wie das „Berlin Playbook“ über den AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah nach der Spionage-Affäre eines Mitarbeiters passierte: Es ist ein als mehrteilige Mini-Reportage inszeniertes Dramolett.

Es beginnt so:

DER FALL KRAH: Heute könnte der Europa-Wahlkampf für Maximilian Krah enden. Geht es nach Alice Weidel und (mit Abstrichen) auch nach Tino Chrupalla, wird Krah sich wegen der Spionageaffäre als Spitzenkandidat zurückziehen. Für 9 Uhr ist Krah einbestellt in das Büro von Chrupalla im Jakob-Kaiser Haus, in Spuckweite zum Reichstagsgebäude.

(Bitte fragen sie mich nicht nach der Relevanz dieses Details, noch dazu in einem Newsletter, der sich vor allem an Leute richtet, denen das mit der Spuckweite nicht nur bekannt sein dürfte, sondern die es fast täglich selbst überprüfen könnten.)

Pauline von Pezold und Peter Wilke haben am BER auf Maximilian Krah gewartet. Um 20:20 Uhr erschien er aus Zürich kommend. Auf die Frage von Pauline von Pezold, ob er Konsequenzen ziehen werde, sagte Krah ihr: „Mir wird ja kein Fehlverhalten vorgeworfen.“

Das Zitat findet sich tatsächlich am nächsten Tag samt Quelle in zahlreichen Medienberichten, und dank „Playbook“ lässt sich nun auch die legendäre Frage „Wie haben Sie das gemacht“ eindeutig beantworten: Mit zwei Reportern am Flughafen! (Dass nicht dabei steht, ob sie mit dem Auto, der S-Bahn oder dem FEX zum Flughafen gefahren sind, ist allerdings eher untypisch für „Playbook“.)

Immerhin verrät „Playbook“ im nächsten Absatz noch, dass Krah ohnehin Spitzenkandidat bleibt, solange er nicht stirbt, weil sich die Wahllisten nicht mehr ändern lassen.

Eine Woche später erscheint „Playbook“ mit der Betreffzeile „Er ist wieder da“ (haha: Hitler).

AUSSTIEG IN FAHRTRICHTUNG RECHTS: Während Sie hoffentlich noch schliefen, ist meine Kollegin Pauline von Pezold schon nach Chemnitz aufgebrochen. Maximilian Krah ist nämlich wieder da. Richtig, eigentlich sollte er von der AfD versteckt werden. Da machen wir natürlich nicht mit.

GuMo: Um 6:28 Uhr ging es am Hauptbahnhof los, um 9:25 Uhr kommt Pauline planmäßig an. Sprechen Sie sie gerne am Bordbistro an oder erzählen Sie ihr hier Ihre Geheimnisse.

Die Füchse und Füchsinnen von „Politico“ haben herausgefunden, dass es sich bei den beiden Terminen in Chemnitz und Dresden – anders lautenden Beteuerungen aus dem Büro Krah zum Trotz – doch mehr oder weniger um Wahlkampfveranstaltungen handelt. So steht es nämlich auf der zugehörigen Internetseite!

Aha: Soso.

Ja: Ja.

Das letzte Wort in diesem Themenblock überlässt „Playbook“ ausgerechnet dem sächsischen AfD-Chef Jörg Urban, der „Politico“ mutmaßlich fröhlich den Satz in den Block diktiert hat: „Gerade nach den Erfahrungen mit der Correctiv-Lügenkampagne sollten wir uns nicht von medialer Hetze beeindrucken lassen.“

Am Tag darauf vermeldet „Berlin Playbook“ dann, dass sich Krah in Chemnitz „leicht erkältet zeigte“, aber jedem die Hand schüttelte. („War aber schnell erledigt. Eine Gruppe von etwa 50 Interessierten war gekommen.“) Reporterin Pezold zitiert Krah erst, dass das kein Europawahlkampf-Termin sei, weiß dann aber, dass er „keine 20 Minuten später“ auf der Bühne doch über die EU sprach!

Und ich hoffe sehr, dass ihr im Bordbistro auf Hin- oder Rückreise wenigstens jemand noch ein echtes Geheimnis erzählt hat.

Lässig am roten Teppich

Ihren Chef darf man natürlich auch ansprechen, wenn man ihn irgendwo sieht, es muss auch nicht immer ein Bordbistro sein:

Guten Tag und Nǐ hǎo wünscht Gordon Repinski. Es ist Freitag in Berlin, den einen oder anderen werde ich am Abend im Hotel Adlon treffen. Sprechen Sie mich an der Austernbar oder lässig am roten Teppich an, heute spielt das Regierungsviertel Glam-Glam beim Bundespresseball.

Wenn wir uns verpassen, gibt es am Wochenende in Chongqing noch einmal eine Chance auf einen roten Teppich, ich fliege mit dem Kanzler nach China.

(Wenn Sie auf den Link unter „China“ klicken, kommen Sie auf Repinskis Instagram-Profil, wo man in den archivierten Stories noch seine Live-Berichterstattung von jenem Tag bewundern kann. Sie beginnt, für alle, die sowas noch nie gesehen haben, mit der Anfahrt auf der Autobahn zum Flughafen BER und lässt auch Informationen in Wort und Bild zum in der Bundeskanzler-Maschine für die Journalisten servierten Frühstück nicht aus: „Ei, Tomate, Kartoffelpufer, Croissant, Fruchtsalat, Kaffee, Nutella“. Ich nehme an, dass das alles auf die Nährstoff-Bilanz von „Politico“ Deutschland einzahlt.

Anwesenheitslisten

Anlässe zum Netzwerken sind wichtig; sehen und gesehen werden, sprechen und angesprochen werden, man kann ja nicht jeden Tag nur vom Jakob-Kaiser-Haus auf den Reichstag spucken. In der verblüffend kleinen Wir-über-uns-Welt des Berliner „Playbook“ ist das Führen von Anwesenheitslisten eine wichtige Sache.

Das begann passenderweise gleich, als „Politico“ selbst eine Feier zum eigenen Start ausrichtete und natürlich damit prahlte, wer alles gekommen war und wann womit ging:

Last but not least: Um etwa 1.30 Uhr gingen Ingo Zamperoni und seine Frau Jiffer Bourguignon, ausgestattet mit Politico Regenschirmen.

Aus der endlosen Aufzählung ragte ein Satz für mich heraus:

Julia Klöckner kam früh und plauderte mit Friede Springer, Philipp Amthor unterhielt sich angeregt am Stehtisch.

Wir werden vermutlich nie erfahren, ob sich Amthor auch mit jemandem unterhalten hat oder ob ihm der Stehtisch Anregung genug war (denkbar wär’s). Aber der Satz verkörpert für mich die ganze betörende Rätselhaftigkeit der „Politico“-Prosa.

Die Anwesenheit irgendwelcher Leute bei irgendwas bedeutet immer irgendwas, auch wenn man nicht weiß, was.

EINSCHÜCHTERUNG ODER BEISTAND? Bei den Pressestatement [sic!] von Alice Weidel und Tino Chrupalla gab es eine ungewöhnlich starke Präsenz der restlichen Fraktion. Gottfried Curio, Stephan Brandner, Frank Rinck, Peter Boehringer, Beatrix von Storch, Mariana Harder-Kühnel, Peter Felser, Rüdiger Lucassen und Bernd Baumann mischten sich unter die Journalisten.

Tja, Einschüchterung oder Beistand? Wer weiß es. Und wessen Einschüchterung überhaupt?

Bei solchen AfD-Pressekonferenzen scheinen eh häufiger AfD-Bundestagsabgeordnete aufzutauchen. Ein paar Wochen vorher hatte „Playbook“ berichtet:

UNTERSTÜTZER: Während sich Alice Weidel und Tino Chrupalla gestern nach der BR-Recherche im Reichstagsgebäude den Fragen der Journalisten stellten, mischten sich auffällig viele Claqeure mit Mandat in die Menge. Stephan Brandner, Bernd Baumann, Kay Gottschalk, Peter Felser, Peter Boehringer, Götz Frömming und Rüdiger Lucassen wurden gesichtet.

Meine These ist ja, dass die AfD-Leute nicht zum Einschüchtern, Beistehen oder Unterstützen kommen, sondern alle nur deshalb bei diesen Terminen auftauchen, weil sie zu so vielen anderen Einlässen nicht eingeladen werden und es ihre einzige Chance ist, in der „SPOTTED“-Rubrik im „Playbook“ aufzutauchen.

Über eine Reise des Bundeswirtschaftsministers und Vizekanzlers in die USA notierte „Berlin Playbook“:

Hello, my Vice Chancellor: Die Grünen Lisa Badum und Sven-Christian Kindler waren ebenfalls in Washington DC, als Robert Habeck dort war. Angeblich auch Andreas Audretsch (nicht persönlich gesehen).

Change: Am Abend fliegt Habeck nach Chicago. Die Obama-Stadt. Das ist natürlich (kein) Zufall.

Testfrage: Ist es Zufall? (Ich tippe auf Ja.)

Lattenreißen bei der KSK

Manche der aufregenden aufgeregten Mini-Anekdoten, die im „Berlin Playbook“ erzählt werden, sind so eigenartig, dass man sie sich in keinem anderen Medium vorstellen könnte, was man als Kompliment verstehen kann, aber nicht muss.

Etwa wenn Repinski schreibt:

Spannend wird es gegen Mittag: Dann besucht der Kanzler die Elitetruppe KSK in Calw. Ursula von der Leyen ist im Jahr 2014 per Fallschirm auf das Gelände gesprungen (im Tandem) und wurde anschließend fast vom Windschlag der Rotoren eines Hubschraubers weggefegt, so dass sie von einem Soldaten festgehalten werden musste und das alles einer der spektakulärsten Besuche einer Ministerin jemals wurde.

Die Latte liegt also hoch: Offiziell geplant ist nur der Besuch um 12:40 Uhr, ein Gespräch mit Soldaten und ein Statement. Ich bin dieses Mal nicht dabei (2014 schon).

Während viele Journalistinnen und Journalisten noch gelernt haben, das Wort „ich“ um jeden Preis zu vermeiden, ist es hier – vermutlich auch im Sinne der zu führenden Anwesenheitslisten – unbedingte Pflicht. Und über die schillernde Verbindung, die der Satz „Die Latte liegt also hoch“ zwischen dem Fallschirm-Drama von der Leyens 2014 und dem sicher super drögen Statement des Kanzlers herstellt, könnte man ganze Germanistik-Seminararbeiten schreiben: Was wird dem Kanzler einfallen, um jenseits des „offiziell geplanten“ Programms einen noch spektakuläreren Stunt hinzukriegen, wie es ja seine Art ist?

Die routinierte Lustigkeit hingegen ist, sagen wir: zugänglicher.

Ist der Haushalt erst ruiniert: regiert es sich gänzlich ungeniert.

Kein Witz.

„Das bisschen Haushalt“, schreiben sie auch gerne in den gefetteten Anlauf. Die Grenzwerte fürs bekiffte Auto-Fahren sind die „High-Way-Regeln“, und was nach dem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten passiert, läuft unter der Marke „Après Xi“ (okay, den fand ich super). London ist natürlich „not amused“ über Scholz. Und: „La deutsche Vita“.

Freihändig Telefonieren ist wie Fahrradfahren

An Fotos haben die Politiker und ihre Berater, für die das „Playbook“ gemacht ist, offenbar kein Interesse, dabei würde es bei Meldungen wie dieser wirklich helfen:

Protokoll-Qualen: mussten alle erleiden. Volker Wissing musste bei der Abkommensunterzeichnung nach links die Hand des chinesischen Counterparts schütteln und zugleich Franziska Brantner zur Linken die Hand geben. Er musste sich völlig verdrehen und es sah leicht albern aus – die Hierarchie-Spielereien finden regelmäßig in China statt.

Je länger ich darüber nachdenke, umso weniger kann ich mir vorstellen, wie das aussah. Falls wir uns mal im Bord-Bistro begegnen, würde ich mich freuen, wenn Sie mir da mal eine Phantom-Zeichnung auf die Serviette kritzeln könnten.

Oder diese Sache hier:

ARMIN LASCHETS ZAUBERTRICK: Erinnern Sie sich an das Rätsel um dieses Foto? Armin Laschet bewies am Dienstag auf der Fraktionsebene, dass er immer noch Telefonieren kann – ohne dabei seine Hände zu benutzen.

Wenn einem das – nochmal, nach zweieinhalb Jahren – imponieren würde, würde man das nicht sehen wollen? Und wem hat er das denn bewiesen? Ist das diese Art Interna, wegen derer die „Politico“-Reporter auf der Fraktionsebene rumstromern?

Kein Scoop zu klein

Ich hoffe trotzdem, dass Repinski nicht diese Art Enthüllungen meint, wenn er gegenüber „Medieninsider“ sagt: „Uns ist kein Scoop zu klein“. Es geht im „Berlin Playbook“ natürlich viel mehr noch um die vielen kleinen Rädchen im Politikbetrieb: Neu besetzte Posten, kleine Nickeligkeiten in irgendwelchen Ausschüssen, herumreisende Delegationen, Detail-Änderungen in Statements, die Stimmung in der Regierung, sich abzeichnende Konflikte. Es ist, ganz unironisch, eine gute Sache, wenn ein Medium in dieser Detailfreude begleitet, wie Politik in Berlin gemacht wird.

Es ist dann aber, andererseits, umso enttäuschender, dass man sich trotz all dieser Bestinformiertheit auch bei „Politico“ nicht vorstellen konnte, dass das Cannabis-Gesetz wie geplant zum 1. April in Kraft treten könnte. Teilweise ohne Konjunktiv oder abschwächendes Füllwort – was sich für die Beschreibung der Zukunft im Journalismus selten empfiehlt – schrieben die „Politico“-Leute Ende Februar:

„Würde das Gesetz am 22. März den Bundesrat passieren, blieben nur neun Tage zur Klärung aller Fragen. Es würde großes Chaos drohen (und deshalb kommt es auch nicht so).“

Es kam: so.

Pan-europäische Speisekarte

„Politico“ hat sich in Europa vor allem einen Namen gemacht für seine Berichterstattung aus und über den Politikbetrieb in Brüssel, und tatsächlich hat die Berichterstattung über die EU hier – unter dem Namen „Eurovision“ – einen festen Platz. Trotzdem ist es ein bisschen überraschend, wenn der Deutschlandfunk mit Repinski am Beispiel von „Berlin Playbook“ ein Interview darüber führt, was pan-europäischer Journalismus kann – so fixiert auf kleinste Details in einer sehr kleinen, sehr Berliner Blase wirkt der Newsletter.

Natürlich kann man sich gleichzeitig dafür interessieren,

  • was es heute in der Kantine im Jakob-Kaiser-Haus gibt („Tom Kha Gai Kokosmilchsuppe mit Hähnchen oder Cheeseburger mit Bacon (alternative auch vegan) und Wellen-Pommes“)
  • dass zwei der Kantinenessen im Kanzleramt um 50 Cent billiger geworden sind
  • ob die Bundestags-Chauffeure demnächst die Abgeordneten am BER an Parkplatz P8 abholen
  • wie und wo Marie-Agnes Strack-Zimmermann beim Besuch des Bundeskanzlers in der FDP-Fraktion herumlief („betont entspannt durch die hinteren Reihen der Fraktion, in der Hand einen Kaffee“) und
  • welche größeren Politprojekte auf europäischer Ebene gerade angestoßen werden oder nicht vom Fleck kommen.

Aber wenn ich raten müsste, für welchen dieser Punkte die Berliner „Politico“-Leute am meisten brennen, wären die größeren europäischen Politprojekte nicht unter meinen ersten vier Antwortversuchen.

Ich meine:

NOCH EIN UNIONSSCHMAUS: Vor der Sitzungswoche trafen sich die Spitzen von CDU und CSU mit Ursula von der Leyen im Restaurant „Baret“ des Humboldt Forums über den Dächern von Berlin, um über das Europawahlprogramm der Union zu beraten. Anschließend gab es eine Führung durch die Kulturstätte.

Auf dem Menü standen Pumpernickel mit Lachs als Vorspeise und geschmorte Rinderbäckchen mit Kartoffelpüree oder Knollenselleriesteak in Salzkruste mit gegrilltem Spinat als Hauptgang. Baskischer Käsekuchen vollendete das Dinner.

Ehrlich gesagt ist die Politikberichterstattung auch dort, wo sie nicht vom kulinarischer Protokollpflege geprägt ist, eher desillusionierend. Neulich war der Premierminister von Malaysia im Kanzleramt:

Scholz freut sich: Er betonte im Statement nach dem Anwar-Besuch am Montag, dass er Südostasien wichtig findet. Als der malaysische Premier zweimal betonte, wie „sehr beeindruckt“ er vom neuen Interesse sei, grinste Scholz auffällig breit, berichtet Hans von der Burchard aus dem Kanzleramt.

Ist das so ein Moment, in dem die wichtigen Entscheider und Entscheidungsvorbereiter unter den Lesern aufmerken: Oha! Die Bundesregierung meint das echt ernst mit Südostasien! Der Kanzler hat nämlich „auffällig breit gegrinst“! Der „Politico“-Mann hat es gesehen und notiert!

Notizen aus der Provinz

Von wegen pan-europäisch: Die Berliner Blase wirkt, durch den „Playbook“-Newsletter betrachtet, wie eine WhatsApp-Gruppe von Arbeitskollegen, in der man sich Grüße schickt (auch in Form von für Nicht-Eingeweihte völlig rätselhafter „Playbook Postkarten“), Insider-Gags teilt und erzählt, dass es beim FDP-Parteitag Eis am Fraktionsstand gab „und der Silvaner am Landwärme-Stand am Samstag bereits um 17:30 Uhr ausgetrunken war“.

Man sollte denken, dass Dinge größer erscheinen, wenn man näher rangeht, aber beim „Berlin Playbook“ zeigt sich der umgekehrte Effekt: So klein und provinziell wie hier hat die Hauptstadt noch nie auf mich gewirkt.

Mitte April notierte Gordon Repinski:

SAUNA-Meister: Ihr Playbook-Team war gestern Abend nahezu geschlossen zu einem diplomatischen Sauna-Abend in der finnischen Botschaft und wir haben uns gerne auf das kulturelle Experiment eingelassen. Männer- und Frauensauna wurden auf jeweils etwa 80 Grad geschätzt, für Abkühlung sorgte ein finnisches Bier. Wir danken Botschafter Kai Sauer für die Führung, Erläuterungen, Einblick in die Kultur (und den Aufguss).

Die Sauna, das kulturelle Experiment aus Finnland. Man muss sich auf diese neumodischen europäischen Merkwürdigkeiten einfach mal einlassen, und in Berlin ist es möglich. Bei „Politico“ Deutschland haben sie das Staunen noch nicht verlernt.

5 Kommentare

  1. Das hat was von Karl Kraus, Kompliment. Der zauste seinerzeit die Wiener Presse für deren aufgeblasene Schilderung von Nichtigkeiten.

  2. Ein schöner Text, sehr gelacht. Kurz den Namen Gordon Repinski gegoogelt und festgestellt: Der Mann war vorher stellv. Chefredakteur auf der Pioneer, dem Gabor Steingart seinem Spreedampfer.

    Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.

  3. @Nr2:
    Danke, Sie haben mir gerade das googeln erspart um zu überprüfen, ob es da Zusammenhänge gibt :)

  4. „Aber der Satz verkörpert für mich die ganze betörende Rätselhaftigkeit der „Politico“-Prosa.“ Und schon für diesen Satz hat es sich doch schon wieder gelohnt.

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